„Als kurz nach der russischen Besatzungszeit im 18. Jahrhundert die letzten Aussätzigen starben und die
Gebäude, in denen sie gehaust hatten, leer standen, fanden sie sich damit ab, dass ihnen jetzt eine andere Art von Unerwünschten auf die Insel geschickt werden sollte. Und dann kamen sie. Die Lahmen, die Gebrechlichen, die Oligophrenen, die Epileptischen, die Blinden, die Tauben, die Monomanen, die Stummen, die mit der Todessehnsucht, die Melancholiker und die Neurastheniker.“ (zit. Johanna Holmström: S. 76)

Text: Sarah Baumann

Johanna Holmström: Die Frauen von Själö

Johanna Holmström
Johanna Holmström
Foto: © Riikka Hurri

Über die Schicksale der Unerwünschten hat die finnlandschwedische Schriftstellerin Johanna Holmström in
ihrem Buch »Själarnas ö« geschrieben. Dieses ist 2019 in der Übersetzung von Wibke Kuhn unter dem Titel
»Die Frauen von Själö« im Ullstein-Buchverlag erschienen. Ich bedanke mich sehr bei dem Verlag für das
Rezensionswerk. Holmström erhielt für ihre Werke Auszeichnungen wie den Literaturpreis »Svenska
Dagbladet« und den »Längmanska Commission’s Prize Sweden«. Im Zentrum Holmström’s Erzählungen
stehen oftmals die Leidensgeschichten von Frauen oder deren Tatendrang und Visionen, wie in der
Kurzgeschichte »Weitwinkel, Ida #2«. Mehr über Johanna Holmström ist auf der Webseite der Agentur Salomonsson zu erfahren.

Själö: Eine Gemeinschaft von Frauen

Zu diesen Frauen zählen auch Kristina, Elli und Sigrid. Was sie verbindet, ist der Ort: Die abgelegene Insel
Själö, auf der 1889 eine Nervenheilanstalt lediglich für Frauen errichtet wurde. Was sie trennt, sind die
Gründe für ihren Aufenthalt und ihre Bestimmungen. Der erste Teil widmet sich Kristina, die Ende des 19.
Jahrhunderts das Festland verlassen muss und damit ihrer Selbstbestimmung und Freiheit beraubt wird. Sie
erfährt groteske Zustände in der Anstalt, die heilen soll, doch in der Frauen nur ihrer eigenen Verkümmerung
entgegengehen. Kristina sieht die Insel als Ort der Buße für die Ertränkung ihrer zwei Kinder. Sie hat
Hoffnung – Willen, wieder leben und genesen zu können. Und als der Pastor der Insel, Erland Björkestam, sie für die Betreuung seiner Kinder braucht, scheint sich die Welt wieder für sie zu öffnen…
Jahrzehnte später wird Elli gegen ihre Einwilligung in die Obhut der Pflegerinnen gegeben. Sie bleibt stark
und setzt alles in Bewegung, um der Ungerechtigkeit ihrer Einweisung und der der Ärzte zu begegnen.
Einfühlsam und verstörend erzählt Holmström von den Leben der jungen Frauen, die auf der Insel altern und in Vergessenheit geraten. Doch neben der melancholischen Stimmung, die den Charakter von stehengebliebener Zeit in sich trägt, erlebt der Leser Vielfältigkeit und Perspektivenwechsel. Im letzten Teil wird das Leben einer Krankenschwester aufgegriffen: Sigrid, die 1930 nach Själö kommt und das Leiden der verstoßenen Frauen zu schmälern versucht.

Wahre Geschichten über verdrängte Leben

Die Einzelheiten und Einblicke in die Geschichten der Frauen sind berührend und beängstigend: Viele der
Seelen, die sich einzig nach Zuneigung und einer zweiten Chance sehnen, magern ab, verstummen, sterben in ihrem Urin oder begehen Selbstmord. Manche geben sich mit ihrer Gefangenschaft zufrieden oder sehen ihre Umgebung sogar als Zuflucht. So auch Karin, die sitzend neben Elli über das weite Wasser der finnischen Schären schaut. „Ich liebe diesen Ort“, sagt sie dann. „Das hier ist mein Zuhause.“ (zit. Holmström: S. 284) Mit Karin tritt Freude und Liebe in die Zeilen. Die Erzählungen von Kristina, Elli und Sigrid gehen ineinander über und schneiden sich; eine Verflechtung findet entgegen der Erwartung nicht statt. Anfangs weckt diese scheinbar sinnfreie Zusammenreihung Unverständnis, doch auf den letzten Seiten begegnet der Leser den Charakteren, mit denen er gelitten hat, vereint (in ihrer Lebensgeschichte) wieder.

Holmström’s Stil ist direkt und analytisch, ohne ausschweifend zu sein. Anlass für das Buch war der Fund
von Patientenakten von Frauen, die auf Själö eingewiesen worden waren. 1962 wurde die Anstalt
geschlossen. Die Autorin stützt sich des Weiteren auf die Doktorarbeit von Jutta Ahlbeck-Rehn
»Diagnostisering och disciplinering: Medicinsk diskurs och kvinnligt vansinne på Själö hospital 1889–
1944«. Mit Kuhn wurde eine brillante Übersetzerin herangezogen. Sie übertrug unteranderem die
«Millennium-Trilogie» von Stieg Larsson und »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und
verschwand« von Jonas Jonasson ins Deutsche.

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Sarah Baumann

Ambassador Literatur

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